Henrieke Strecker Nature’s Brush

Ausgewählte zeitgenössische Positionen in der Ausstellung Dampfer, Deiche, Dramen: Henrieke Strecker ist eine Wanderin, die sich immer wieder anderen Orten aussetzt und neue Einflüsse aufnimmt. Jetzt ist sie auf Föhr. Sie hat Sehnsucht nach dem Meer gehabt.

 

Föhr Anfang Oktober, der Herbst macht sich langsam bemerkbar, kleinere Stürme hat es schon gegeben, gerade braust es wieder durch die Luft. Nach dem Mittagessen mache ich einen spontanen Abstecher in die Künstlerwohnung. Sie liegt fast direkt hinter dem Museum im Herzen von Alkersum. Es ist eine Welt für sich hier. Einerseits ein hübsches Dorf mit seinen gepflegten Friesenhäusern, dem vielen Grün, dem überall wachsenden Rhododendron, anderseits ein Kosmos der Kunst, der voller Überraschungen steckt.

 

Frau Strecker macht die Glastür auf. Es ist ein herzliches „Hallo“, Aufregung gibt es wohl auf beiden Seiten. Ich habe mich sehr auf diesen Moment gefreut. Henrieke Strecker ist die erste Künstlerin, die ich für unsere Ausstellung Dampfer, Deiche, Dramen. Druckgrafik aus der Sammlung und zeitgenössische Positionen eingeladen habe – da steht sie nun.

 

Und sie ist nicht allein gekommen. Mit Staunen sehe ich, dass sie die Werkbänke und Tische in der Künstlerresidenz schon nahezu komplett in Beschlag genommen hat:  Blatt um Blatt reiht sich aneinander, zarte Lineamente, Formen und Kompositionen; es sind erstaunlich kleine Bilder, die sehr genau betrachtet werden wollen. Die irgendwie vertraut aussehen, auch wenn sich Bekanntes höchstens erahnen lässt, und selbst das dann eine Frage der persönlichen Auslegung bleibt. Der große Vogel mit heruntergeklappten Schwingen etwa, der über dem Land dahinsegelt. Ein Vogel, das Land und eine ganze Geschichte, die sich in meinem Kopf abspielt.

 

Henrieke Strecker, o. T., Monotypie, 2022

 

Auf dem Papier sind es nur Flächen, die miteinander interagieren. Es ist erstaunlich, wie die Motive einerseits so offen und uneindeutig sind und andererseits so stabil und „fertig“ wirken. Ich bin fasziniert und sichte immer weitere Drucke. Eine Form, die aus der Ferne an ein Boot erinnert, taucht öfter auf.

 

Henrieke Strecker, o. T., Monotypie, Chine collé, 2020

 

Und dann liegen da noch jede Menge andere Kleinigkeiten: Muscheln, kleine Steine, Äste... „Ich wollte mich verorten“ sagt Strecker und hat dafür bereits Naturmaterialien von der Insel gesammelt und auf dem Tisch ausgelegt. Inzwischen lebt die Künstlerin wieder in ihrer Geburtsstadt Freiburg. Davor war sie unter anderem in Frankfurt, Berlin oder den White Mountains an der amerikanischen Ostküste zuhause. Strecker ist eine Wanderin, die sich immer wieder anderen Orten aussetzt und neue Einflüsse aufnimmt. Jetzt ist sie auf Föhr. Sie hat Sehnsucht nach dem Meer gehabt, das sie auch als „my distant love“ beschreibt. Nun kann sie diese Distanz überbrücken und ich bin gespannt, was das für ihre Arbeit bedeutet.

 

Neben Videos, Zeichnungen, Lithografien und Radierungen hat Henrieke Strecker in den letzten Jahren vor allem Monotypien gefertigt. Das ist ein untypisches Druckverfahren, weil es in der Regel nur einen einzigen Abzug gibt: Die Farbe wird direkt auf den Druckträger aufgebracht, ohne dass dieser vorher bearbeitet, etwa geritzt oder geätzt, wurde.  Strecker sagt, sie wäre nicht interessiert an der Vervielfältigung. Tanzt sie damit in unserer Ausstellung nicht etwas aus der Reihe? Ich denke an unsere „alten Meister“, an Max Liebermann oder Emil Nolde, die die Druckgrafik genutzt haben, um ihre Kunst buchstäblich unter die Leute zu bringen, für die sie ein künstlerisches Experimentierfeld, aber eben auch ein gutes Geschäftsmodell darstellte.

 

 

Streckers Arbeit derweil ist und bleibt eine sehr intime Angelegenheit. Sie schöpft aus sich heraus, Stimmungen, Gefühle, wohl auch so manche Lebenserfahrung fließen ein. Wenn ich auf das Papier schaue, erkenne ich: den leicht kühlen Wind, der mir mittags entgegenkam, Momente von Widerstand und Fügung, erdene Schwere und tanzende Leichtigkeit, Harmonie und … auch Drama! – und das sind nur einige und freilich ganz persönliche Deutungen.

 

Diese Bilder sind komplex und gleichzeitig sehr klar, das finde ich faszinierend. „TANG – Nature’s Brush“ soll der Titel einer neuen Arbeit lauten. Denn Strecker arbeitet hauptsächlich mit natürlichen Werkzeugen und Materialien, unter anderem zeigt sie mir ganz feine aus Naturmaterialien gebundene Pinsel. „Die Natur ist die beste Zeichnerin“, sagt sie. Die der Natur entnommenen Materialien gibt sie später der Natur zurück.

 

Dr. Pia Littmann, Kuratorin der Ausstellung Dampfer, Deiche, Dramen. Druckgrafik aus der Sammlung und zeitgenössische Positionen