Trachten als Motiv Geschichte und Gegenwart

„Ich reise einfach gern und entdecke gern die Welt und hab dann natürlich auch mit den Menschen zu tun,“ berichtet Corina Gertz bei meinem Besuch. Dieses Interesse an Kulturen und Menschen spiegelt sich in ihrer Kunst wider: Sie fotografiert Personen in Trachten auf der ganzen Welt. Im Juni 2023 war die Künstlerin als Artist in Residence des MKdW zu Gast auf Föhr.

 

Empfangen werde ich im Eingangsbereich der Künstlerwohnung sogleich von dem kleinen mobilen Studio, das Corina Gertz und ihr Mann Kris Scholz, ebenfalls Künstler, errichtet haben. Hier wurden bereits einige Föhrerinnen in Tracht abgelichtet und auch auf Amrum verbrachte das Paar einige Tage, an denen Corina Gertz die Amrumer Tracht festhielt. Begeistert berichtet sie von der Unkompliziertheit und Offenheit der Insulanerinnen. Nach dem Fotoshooting mit drei weiteren Frauen von Föhr bei dem nebenbei in Kunstkatalogen geblättert und angeregt über Trachten diskutiert wird, spreche ich mit Corina Gertz über ihren Werdegang und ihre Passion für die Kunst.

 

 

Mode und Kunst

 

„Ich liebe dieses Projekt, weil es sich um Textilien handelt – aus diesem Bereich kommt meine Familie, es ist was ich studiert und als ersten Beruf ausgeübt habe,“ erzählt Gertz. Sie absolviert zuerst eine Ausbildung zur Schneiderin, studiert Modedesign und zieht dann für ihre erste Anstellung bei einem bekannten Designer nach Florenz.

 

Sie wechselt von da an oft den Ort, geht zuerst nach Südafrika und später, zusammen mit Kris Scholz, nach China, das zwanzig Jahre lang zu ihrer zweiten Heimat wird. Anfangs trat sie die Reise mehrmals im Jahr an, um in der Volksrepublik Kollektionen zu besprechen, doch allmählich wandelt sich ihr Schwerpunkt von Mode zu Kunst. Das beginnt mit einer Künstlerresidenz in Peking, zu der die beiden eingeladen werden. Lehraufträge in China und die Zusammenarbeit mit Galerien, folgen. Das Modedesign nun hinter sich gelassen, arbeitet Corina Gertz viel mit chinesischen Künstler*innen zusammen, betreut kuratorische Projekte in Museen und stellt ihre Werke aus – nicht nur in China, sondern auch in der deutschen Heimat.

 

Das Bewusstsein für Kleidung und Stoffe spielt dabei immer eine Rolle. Beim indigenen Volk der Himba in Namibia entstehen Corina Gertz‘ erste Fotografien mit Fokus auf den ästhetischen Aspekt von Kleidung, Schmuck und Körperbemalung. Vor mehr als 14 Jahren beginnt die Künstlerin ihr heutiges Projekt Das abgewandte Portrait, für das sie Menschen in Trachten auf der ganzen Welt fotografiert. Vor allem Frauen sind auf diesen Porträts zu sehen, stets von hinten, die Kleidung im Mittelpunkt. Auch mit dem Zusammenspiel von Kunst und Mode hat die Düsseldorferin sich genauer beschäftigt, etwa bei einer Ausstellung, die sich mit Kostümen und Fashion auseinandersetzt und den Blick auf das Handwerk lenkt, das jeder Kleidung und der Traditionellen insbesondere, zu Grunde legt. So fangen auch ihre Portraits vor allem die Struktur und Form der Kleidung ein.  

 

 

Die auf Föhr und Amrum entstandenen Werke, die einladen die nordfriesische Fest- und Sonntagstracht im Detail zu erleben, verdeutlichen Corina Gertz‘ Absichten. Die Beschaffenheit der Tracht scheint greifbar, etwa durch die Falten des gesteckten Schultertuches oder die auffallenden silbernen Schmuckstücke. Weiterhin nimmt die Trägerin von hinten Gestalt an. Die Fransen des Kopftuches deuten auf das abgewandte Gesicht und die warmen Töne der kunstvoll geflochtenen Haare stechen hervor.

 

Die Tracht als Motiv beschäftigt die Kunstwelt schon lange, auch in der MKdW-Sammlung: Auf den Werken von Otto Heinrich Engel oder Carl Ludwig Jessen lassen sich die Details der Föhrer und Amrumer Trachten erkennen. Ebenso wie Corina Gertz halten Künstler*innen die verschiedensten Trachten fest. Johan Julius Exner malte etwa die Fanniker Tracht, mit der sich auch Trine Søndergaard auf zeitgenössischen Fotografien auseinandersetzt. Sie besuchte, genauso wie Corina Gertz, Mila Teshaieva und Anja Jensen, die unter anderem nordfriesische Trachten fotografisch festhielten, das Museum Kunst der Westküste als Artist in Residence.

 

Kleidung als Kommunikationsmittel

 

Die Ansicht von hinten, typisch für ihre Fotografien, hat einen gezielten Grund. Beim Betrachten eines Gesichtes beginnt im Kopf bereits das Urteilen über diese Person – „Das nehm‘ ich raus, und ich nehm‘ auch die Wertung raus.“ Das Gesicht und die Hände eines Menschen, die zuerst die Blicke auf sich ziehen, lenken ab von dem, worum es Gertz eigentlich geht: die nonverbale Kommunikation, die die Kleidung mit sich bringt. Wer sich auskennt, kann die Tracht lesen, erkennt den sozialen Status, den Beruf, das Vermögen oder die persönliche Situation der Träger*innen. Diese Informationen sind auch in der Hinteransicht zu erkennen, denn früher sah man die Menschen lange von hinten, ob in der Kirche oder auf der Kutschfahrt. Die Dokumentation von Menschen über die Geschichte hinweg, so erklärt Gertz, habe dies jedoch oft nicht berücksichtigt: Fotografien, Stiche oder Gemälde zeigen Menschen meist von vorne. So ist auch auf Corina Gertz‘ Fotografien zu sehen, dass einigen Kopftüchern der Friesinnen noch die Haube hinzugefügt ist. Ein kleines rotes Stück Stoff, das mit Perlen bestickt ist und signalisiert, dass eine Frau verheiratet – also wortwörtlich unter der Haube - ist.

 

Hinzu kommt, dass Trachten oft jahrhundertealte Tradition beinhalten und somit auch eine Kommunikation entsteht, die über die Zeit hinwegreicht und Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet, denn eine Tracht wird über viele Generationen weitergegeben. Corina Gertz Fotografien halten die traditionelle Kleidung fest, bewahren somit ein Stück Geschichte und dokumentieren es für die Welt.

 

 

Anders als traditionelle Gemälde alter Maler, zeigt die zeitgenössische Darstellung die Trachten aber auch in einem neuen Licht, es lassen sich Unterschiede und Veränderungen erkennen. Auf Föhr etwa entstand aufgrund der Seefahrt der Männer nur eine Tracht für Frauen, in anderen Regionen und Ländern stehen auch Männer in Trachten vor Corina Gertz Kamera. Für die Kulturhauptstadt Chemnitz 2025 fotografiert sie das Bergmannshabit im Erzgebirge, wobei auch Frauen die ehemals traditionell männliche Tracht tragen. Doch nicht nur Geschlechterbilder verändern sich, auch die Kleidung selbst. So berichtet Corina Gertz von einem Shooting mit Turkana-Frauen in Kenia, die zu den traditionellen Perlenkragen aus übereinandergelegten Glasperlenketten Secondhand-Kleidung, wie Oberteile mit Adidas-Logo oder Camouflagemuster trugen, sie sahen aus wie „beim Modedesigner vom Laufsteg gefallen.“

 

Somit bringt ihre Kunst eine besondere Bedeutung und auch Verantwortung mit sich. „Die Arbeit hat eine Relevanz und ist wichtig, um Dinge festzuhalten,“ ist sich die Künstlerin bewusst. Sie werde immer mit Freude empfangen, in den meisten Fällen sogar eingeladen. So etwa in Lagartera in Spanien, wo das ganze Dorf zum Shooting erschien: „Die Kinder kamen, die Männer kamen – ich habe sie alle fotografiert.“ Auch wenn eine Sprachbarriere besteht, spricht die Kunst oft für sich selbst. Über eine Reise nach Afrika erzählt Gertz: „Ich habe einfach nur auf dem Handy meine Bilder gezeigt und sie haben das sofort verstanden und wollten dabei sein.“ Trachten verbinden nun einmal, wie Corina Gertz uns mit ihren Fotografien beweist, über Generationen und Grenzen hinweg.

 

 

Wenke Röschmann

Praktikantin im Museum Kunst der Westküste, Juni bis August 2023