Nordsee im Wandel

Leonie Dittmann ist Nationalpark-Rangerin auf Föhr. Sara Nina Strolo ist wissenschaftliche Volontärin am Museum Kunst der Westküste. Ein Gespräch über den Kulturraum Nordsee im Wandel – in der Ausstellung Auf das große Westmeer schauend.

 

Was gehört zu euren beruflichen Aufgaben?

 

Leonie Dittmann: Ich bin Nationalpark-Rangerin beim Landesbetrieb für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz Schleswig-Holstein. Ich bin im Außendienst tätig und zuständig für die Gebietsbetreuung im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer. Ich behalte im Blick, wie sich der Nationalpark entwickelt und dass sich die Besucher*innen an die Regeln halten. Außerdem finden regelmäßige Vogelzählungen statt und das Spülsaum-Monitoring, bei dem ich auf einer bestimmten Strecke schaue, was dort angespült wird. Und ich bin für Veranstaltungen und Öffentlichkeitsarbeit zuständig.

 

Sara Nina Strolo: Ich habe mein Studium beendet und in Kunstgeschichte promoviert. Jetzt bin ich wissenschaftliche Volontärin hier am Museum Kunst der Westküste. Ich bin in den Bereichen Wissenschaft, Inventarisierung und Ausstellungswesen unterwegs. An der Ausstellung Auf das große Westmeer schauend – Der Kulturraum Nordsee im Wandel habe ich als kuratorische Assistenz mitgewirkt.

 

Interviewerin Pauline Reinhardt, wissenschaftliche Volontärin Sara Nina Strolo und Nationalpark-Rangerin Leonie Dittmann vor Anja Jensen, Åre (v.l.n.r.)

 

Die Ausstellung Auf das große Westmeer schauend thematisiert Veränderungen an Küste und Meer – wie hat sich die Insel- und Halligwelt im letzten Jahrhundert hier verändert?

 

Leonie Dittmann: Der Tourismus hat sich sehr stark entwickelt. Er hat einen großen Einfluss auf die Küstenregion, beispielsweise durch den Infrastrukturausbau. Gebiete, die vorher von Einheimischen genutzt worden sind und wenig begangen waren, werden verstärkt touristisch genutzt.

 

Außerdem hat sich der Küstenschutz in den letzten 100 Jahren weiterentwickelt. Früher hat man aktive Landgewinnung betrieben, heute geht es darum, den Schlick vor den Deichen festzuhalten, um damit die Sicherheit zu gewährleisten.

 

Zudem ist die Natur des Wattenmeeres durch die großen globalen Veränderungen bedroht: wegen des Klimawandels steigen der Meeresspiegel und die Wassertemperaturen, wodurch in Folge einzigartige Lebensräume verschwinden und sich das Artenspektrum verändert.

 

Sara Nina Strolo: Zum Anfang des 20. Jahrhunderts gab es auf Föhr einen Bauboom. Wenn wir uns Gemälde von Otto Heinrich Engel, einem Gründungsmitglied der Berliner Secession, anschauen, sehen wir, dass dieser sich dem „modernen“ Föhr entzogen hat. Er stellt zwar Situationen dar, die er gesehen hat, aber im Endeffekt handelt es sich um Kompositionen, die das Inselidyll überhöhen. Wenn wir uns heute, zum Beispiel mit unserer neuen App MKdW on tour, anschauen, wie sich die Orte verändert haben, können wir Hinweise darauf finden.

 

Ich persönlich finde, wenn man im Sommer über Föhr geht und sich die Orte ansieht, hat man dieses idyllische Gefühl durchaus immer noch. Aber dieses Zurückgezogene, was Engel auch fasziniert hat, das empfinde ich in der Hauptsaison weniger.

 

Otto Heinrich Engel, Dorfstraße im Spätsommer, 1912, Museum Kunst der Westküste                 

 

Anhand der Bilder von Otto Heinrich Engel kann man gut sehen, was sich verändert hat. Das finde ich sehr spannend und dahingehend habe ich mich gefragt: Wenn das der Blick von vor 100 Jahren auf die Insel ist, was denkt ihr, wird in 100 Jahren sein?

 

Leonie Dittmann: Eine Hoffnung wäre natürlich, dass man den Bauboom, der auf Sylt viel weiter vorangeschritten ist als hier, aufhält. Überall wird gebaut, überall wird groß gebaut. Dabei wird versucht immer mehr in den Außenbereich zu gehen. Viele Menschen möchten abgekapselt in der Marsch leben. Dadurch findet eine große Zersiedlung statt. Für viele „lohnt“ es sich nicht mehr in alte Häuser zu investieren. Wenn sich dieser Trend fortsetzt, werden Bilder wie die von Engel immer mehr der Vergangenheit angehören.

 

Sara Nina Strolo: Ob die Nordsee in 100 Jahren noch genauso bestehen wird, wissen wir nicht – aufgrund des menschengemachten Klimawandels. Dementsprechend ist es schwierig sich vorzustellen, wie dann die Insel genutzt wird.

 

Was wir an den Bildern von damals, aber auch bei zeitgenössischen Künstler*innen sehr gut nachvollziehen können: dass Föhr nach wie vor ein künstlerischer Sehnsuchtsort ist. Das nordseetypische Wyk gepaart mit den idyllischen Dörfern hat eine gewisse Anziehungskraft. Die Künstler*innen vor 100 Jahren und vielleicht auch in 100 Jahren, falls es noch möglich ist, suchen und besuchen die Abgeschiedenheit und Ruhe.

 

Leonie Dittmann: Wenn sich die Klimakrise weiter zuspitzt, geht man davon aus, dass im Jahr 2100 der Meeresspiegel bis zu einem Meter angestiegen ist. Der Küstenschutz muss daran angepasst werden, gerade auf Föhr, weil drei Viertel der Insel Marschland sind und jetzt schon unter dem Meeresspiegel liegen. Man muss letztendlich schauen, was dann noch von der Insel übrig ist. Für viele Vogelarten wäre es vernichtend, wenn die Wattflächen – ihre Nahrungsplätze – durch den Meeresspiegelanstieg verschwinden würden.

 

Sara Nina Strolo: Umso bedeutender werden die Kunstwerke von damals und auch heute sein. Sie sind dann als Zeitzeugen zu begreifen.

 

Anja Jensen, Åre, 2011, Museum Kunst der Westküste, © VG Bild-Kunst, Bonn 2023

 

Ich möchte mit euch über die Fotografie Åre von Anja Jensen sprechen. Sara Nina, was ist die Entstehungsgeschichte, wer ist Åre?

 

Sara Nina Strolo: Das Werk von Anja Jensen gehört zu der Reihe It’s for Security, in der sie Überwachung und ständiges Beobachtetwerden hinterfragt. Sie lässt uns als Betrachter*innen des Bildes zu aktiven Beobachter*innen werden. Das wirft die Frage auf: Wie fühlen sich eigentlich die Menschen, die wir beobachten?

 

Åre ist ein Junge von Amrum, der Sohn eines Wattführers. In seinem Gesicht sehen wir viele Emotionen: Auf den ersten Blick wirkt er gelangweilt, ein wenig lausbübisch. Aber wenn man ihm wirklich in die Augen sieht, dann sieht man da eine gewisse Unsicherheit und Angst.

 

Leonie Dittmann: Und Verzweiflung, finde ich.

 

Sara Nina Strolo: Auf jeden Fall Negatives. Die Situation ist dem Jungen unangenehm – weil wir ihn beobachten oder weil er im Watt steht. Er zieht schon seine Hose hoch, das Wasser kommt. Als Sohn eines Wattführers hat er von klein auf gelernt, dass er sich in einer potenziell lebensbedrohlichen Situation befindet. Anja Jensen bringt uns in eine unangenehme Situation: Wir können ihm nicht helfen. Wir stehen hier und sehen ihm dabei zu, wie er sich unwohl fühlt.

 

Die Frage, die wir in der Ausstellung thematisieren möchten: Wenn Åre älter ist oder falls er selbst einmal Kinder haben sollte, wird es dann den Kultur- und Naturraum Nordsee in dieser Form noch geben? Wird es seinen Traumberuf Wattführer noch geben? Er steht sinnbildlich für eine ganze Generation, die im Wasser steht, die Hosen hochkrempeln und mit der neuen Situation klarkommen muss.

 

Du gibst Wattführungen, Leonie. Taucht da auch mal diese Frage auf: Wie lange wird es noch Wattführungen geben?

 

Leonie Dittmann: Von Besucher*innen wurde diese Frage tatsächlich noch gar nicht gestellt.

 

Sara Nina Strolo: Wenn die Menschen die Natur erleben und entdecken, wollen sie nicht darüber nachdenken, wie gefährdet das alles ist.

 

Leonie Dittmann: Wobei man den Menschen schon vermitteln möchte, dass das Watt ein spezieller Lebensraum ist, der durch die Klimakrise sehr bedroht ist und erhalten werden soll.

 

Sara Nina Strolo: Ich versuche auch in meinen Führungen durch die Ausstellung zu vermitteln, dass wir uns in einem sich verändernden Natur- und Kulturraum sind. Nachfragen dazu kamen noch nie. Wir zeigen die Bedrohung durch die Klimakrise auf, aber kommt das bei den Besucher*innen an?

 

Leonie Dittmann: Manches muss erstmal wirken. Bei den Wattwanderungen oder wenn ich mit Gästen ins Gespräch komme, sind diese in Urlaubsstimmung. Sie sind fokussiert auf das Positive, die negativen Gefühle stehen nicht im Vordergrund.

 

Sara Nina Strolo: Ja, ich merke das oft. Gerade wenn ich vor dem Bild von Åre von dem steigenden Meeresspiegel erzähle, sehe ich in den Gesichtern der Besucher*innen: Sie möchten nicht noch mehr davon hören.

 

Leonie Dittmann: Man hört im Alltag so viele negative Nachrichten, die man gar nicht verarbeiten kann und versucht im Urlaub die Augen davor zu verschließen. Deswegen müssen wir die Balance behalten und auch die positiven Seiten beleuchten.

 

Deswegen finde ich den Begriff des Schützenswerten so schön, weil er die Gefahr und gleichzeitig die Hoffnung auf Veränderung betont. Leonie, was kann denn getan werden, um das Watt zu schützen?

 

Leonie Dittmann: Wenn der Meeresspiegel steigt, werden wir immer weniger trockenfallende Wattfläche haben, die für Vögel eine unverzichtbare Nahrungsgrundlage ist. Das Watt ist ein sehr dynamischer Lebensraum, das sieht jeden Tag anders aus. Wenn wir diese natürlichen Dynamiken wieder zulassen, haben wir vielleicht das Glück, dass das Watt mit Anstieg des Meeresspiegels durch Sandtransport und Sedimentation anwachsen kann. Das Problem ist, dass der Meeresspiegel im Verhältnis zur Aufsedimantation des Watts relativ schnell steigt.

 

Ansonsten müssen wir natürlich schauen, wie wir den Klimawandel verlangsamen können. Aufhalten werden wir ihn nicht mehr. Das ist ein großes Thema, mit dem wahnsinnig viel zusammenhängt, wie der Wechsel zu erneuerbaren Energien.

 

Die Nutzung im Watt darf nicht verstärkt werden. Eigentlich muss die Hälfte der Fläche im Nationalpark ungenutzt bleiben. Das ist bei uns nicht der Fall, es gibt zum Beispiel Schifffahrt, Fischerei und Tourismus. Im Süden des Nationalparks Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer gibt es die Ölbohrinsel Mittelplate A. Die Erdölförderung steht in deutlichem Widerspruch zum Wattenmeer, da dies ein Ökosystem ist, das empfindlich auf den Klimawandel reagiert. Eine Ölkatastrophe ist hier zwar unwahrscheinlich, aber durch den Betreib kommt es zu vielen Störungen vor allem durch Licht, Lärm, Schiffsverkehr und das Freispülen der Zufahrt.

 

Thomas Wrede, Schlammlawine, 2020, Museum Kunst der Westküste, © VG Bild-Kunst, Bonn 2023

 

Der Fotograf Thomas Wrede schafft Täuschungen, indem er mit Bauteilen Landschaften konstruiert, zum Beispiel hier auf Föhr. Auch wenn diese manchmal katastrophal anmuten: Wie sähe eure Traumlandschaft auf der Insel Föhr aus, wenn ihr konstruieren dürftet, was ihr möchtet?

 

Leonie Dittmann: Ich würde damit anfangen, an den Stränden und in den Salzwiesen größere Bereiche für Brutvögel zu schaffen, die von den Menschen nicht oder nicht so stark genutzt werden. Man darf auch die Pflanzenwelt nicht vergessen: Es gibt viele bedrohte Arten, die nur auf den Salzwiesen vorkommen und an die Verhältnisse dort angepasst sind, den Winter mit häufigen Überflutungen und den trockenen Sommer.

 

Sara Nina Strolo: Ich möchte Busse hier reinsetzen, denn ich fände es schön, wenn viele Teile von Föhr autofrei wären. Um den Bogen zur Kunst zu schlagen: Föhr ist eine kreative Insel. Hier sind viele Künstler*innen, aber die Insel ist, gerade für Menschen, die ganz am Anfang ihrer Karriere stehen und von ihrer Kunst leben müssen, nicht bezahlbar.

Die Insel kann für solche Menschen ein Ort sein, das ist sie ja schon immer gewesen und es wäre wirklich schön, wenn das erhalten bliebe.

 

Leonie Dittmann: An der Eilun Feer Skul gab es ein Projekt zu dem Thema, wie die Insel nachhaltiger gestaltet werden könnte. Dort kam auch der Wunsch nach Solarbussen zum Ausdruck. Um auf der Insel autofrei mobil sein zu können, sollten auch die Fahrradwege ausgebaut werden.

 

Das ist schon mal ein guter Anfang. Wenn ich noch einen Wunsch einbringen darf: Mehr Nutzung von Immobilien für Menschen, die auf der Insel leben und arbeiten, weniger Ferienhäuser.

 

Leonie Dittmann, Sara Nina Strolo und Pauline Reinhardt vor Wredes Werken (v.l.n.r.)

 

Sara Nina, du hast mal erzählt, dass du in den Führungen durch die Ausstellung Auf das große Westmeer schauend fragst, was die Leute denken, wenn sie auf das Meer schauen. Ihr arbeitet beide mit dem Meer oder dem Blick aufs Meer. Könnt ihr trotzdem noch abschalten, wenn ihr aufs Meer schaut?

 

Leonie Dittmann: Ich kann das sehr gut. Dieser Blick aufs Meer ist immer wieder etwas, das Durchatmen zulässt und Entspannung bringt. Es sei denn, man blickt während einer Sturmflut aufs Meer oder von einer Warft auf das Wasser, das an der Warft nagt – das ist auch beängstigend.

 

Sara Nina Strolo: Ja, da war schon viel Wahrheit in deinen Worten. Natürlich denke ich auch an unsere Objekte, gerade durch die großen Themen Verortung der Werke und Entwicklung durch die Jahrzehnte und Jahrhunderte. Aber trotzdem kann ich mich an den Strand setzen, aufs Meer schauen und runterfahren.

 

Vielen Dank für das Gespräch!