Mein erster Begegnungsort mit den Druckgrafiken von Marie-Louise Exner ist ein Ordner mit Bilddateien, Fotografien ihrer Radierungen ohne Titel, nur mit Kürzeln versehen. Exners Bilder sprechen mich sofort an, aber dass ich ihre Titel zunächst nicht kenne, gibt mir Rätsel auf. Was sieht man, wenn man nicht weiß, wie etwas heißt?
Eine der Grafiken ähnelt dem Blick aus dem Weltall auf die Erde, wenn Städte hell erstrahlen und ländliche Gegenden dunkel bleiben. Später erfahre ich den Titel auf Dänisch, einer Sprache, derer ich nicht mächtig bin und die mir seltsam erscheint, weil man in ihr angeblich niemanden siezt außer der Königin, kaum Ausrufezeichen setzt und weil sie geschrieben so anders wirkt als gesprochen.
Sky af sorte stjerner, heißt die Radierung, Wolke aus schwarzen Sternen. Doch die Sterne, stjerner, sind eigentlich Stare, stære. Des Rätsels Lösung ist etwas anderes als von mir vermutet: Es ist nicht der Blick von oben nach unten, den Marie-Louise Exner hier gewählt hat, sondern der Blick von unten nach oben, in den Himmel, wo die Vögel so dicht fliegen, dass sie eine Wolke bilden. Exners Bilder strahlen Bewegung aus. Die Vögel sind dabei, sich neu zu formieren – und wer wie ich in dem Vogelschwarm die dunklen Lichtpunkte der Großstädte sieht, dem erscheinen sie pulsierend.
Marie-Louise Exner, Sky af sorte stjerner
Mittlerweile sind die Arbeiten von Marie-Louise Exner auf Föhr eingetroffen und sicher im Depot verstaut worden. Endlich habe ich Gelegenheit, mir ihre Blätter im Original anzuschauen. Sie sind groß, viel größer als die Bilddateien auf meinem Bildschirm. So kommen auch die vielen Töne zwischen Schwarz und Weiß zur Geltung sowie das Zusammenspiel von dicken und dünnen, wild in die Druckform geritzten und brav gestrichelten Linien.
Natur im Laufe der Zeit
Meine nächste Begegnung mit Marie-Louise Exner ist dann ein Telefonat mit ihr. Ob Natur meistens oder immer das Thema ihrer Werke sei, frage ich sie. „Es ist immer Natur, hat sich aber mehr und mehr zu einer Betrachtung von Natur im Laufe der Zeit entwickelt. Ich blicke zurück und nach vorne. Außerdem denke ich viel darüber nach, was es bedeutet, in der Natur zu leben – weil ich in ihr lebe.“
Die Künstlerin ist im Alter von 25 Jahren auf die dänische Nordseeinsel Fanø gezogen. Neben der dortigen Landschaft fasziniert sie besonders die musikalische Tradition der Insel sowie die Frage danach, wie die Menschen früher das Leben „in der Wildnis“ gestaltet haben. Zu ihren künstlerischen Projekten gehören auch Installationen im Freien, wie das Stricken eines Zeltes.
Wenn man unsere Sammlung Online nach Fanø durchsucht, fällt sofort der Name Exner auf. Johan Julius Exner, der Großvater von Marie-Louise Exners arbeitete auch auf der Insel. Er malte dort im Stil der dänischen Nationalromantik das Landleben. Viele Male setzte er auch die wunderschöne Fanøer Tracht in Szene. „Ich finde es lustig, dass wir am selben Ort herumlaufen“, sagt Marie-Louise Exner, „und dass wir mehrere Generationen nacheinander an den gleichen Dingen interessiert sind. Es gibt sehr viele Unterschiede zwischen unseren Werken, aber wir gehen durch dieselben Straßen, dieselbe Natur.“
Keine Aussichtspunkte, keine Horizontlinien
Ich erzähle ihr, dass es mir besonders eine Grafik angetan hat, die ich auf den ersten Blick „richtig“ interpretiert habe, auch ohne den Titel zu kennen. Engen – Wiese. Ich wähnte mich mittendrin, im leicht nassen Abendgras einer Sommerwiese liegend. Was aus der Ferne weich und einladend wirkt (die Wiese), entpuppt sich aus der Nähe als spitz und kitzelnd (das Gras).
Marie-Louise Exner, Engen
Marie-Louise Exner erklärt mir, dass es ihr genau darum geht: das Bild nicht nur anzuschauen wie Tourist*innen von einem Aussichtspunkt aus, sondern mittendrin zu sein. Besonders in ihren Werken von Fanø gibt es deswegen keine Horizontlinie. „Fanø ist eine große Welt. Ebbe und Flut und alles, was im Himmel und auf der Erde vor sich geht, haben sich so sehr gegenseitig im Griff. Ich betrachte das Ganze. Ich trenne Himmel und Erde nicht voneinander.“
Auch in jenen von ihren Grafiken, die vermeintlich nur Himmel oder Erde zeigen, lassen sich die Zusammenhänge erkennen. So zeigt die Wolke aus schwarzen Staren Vogelschwärme, die auf Bäumen oder Feldern starten und landen müssen, um sich in den Lüften neu zu formieren. In der Wiese hat der Wind seine Spuren hinterlassen. Die Natur lässt sich nicht einrahmen, sie existiert außerhalb des Werkes weiter.
Diese holistische Einstellung spiegelt sich auch in Marie-Louise Exners Antwort auf meine Frage wider, was ihr die Druckgrafik bedeute: „Wenn man malt oder zeichnet, fängt man irgendwo an. In der Druckgrafik arbeiten wir an einem ganzen Bild auf einmal. Danach kann man Details ändern, einen weiteren Druck machen... Das ist ein wunderbarer, sehr meditativer Prozess im Vergleich zum ständigen Schaffen und Gestalten. Es sind nur deine Hände, die arbeiten, deine Technik ist diejenige, mit der du sprichst.“
Pauline Reinhardt, M.A., Kommunikation & Veranstaltungen