Are Andreassen Handel, Handwerk, Holzschnitt

Die Beschreibung „plakativ“ stimmt mit Blick auf die Größe, die leuchtenden Farben und die klare, fast schon strenge Formensprache allemal. Worum genau es in den 15 Farbholzschnitten des norwegischen Grafikers und Bildhauers Are Andreassen geht, wird dennoch nicht gleich klar.

 

„Røst“ ist der Titel seiner Grafikserie und zugleich ist es der Name einer Inselgruppe am äußersten Rand der Lofoten, gelegen rund 100 Kilometer vor der norwegischen Küste.

 

Eingeweihte wissen vielleicht, was sich dort oben vor bald 600 Jahren abgespielt hat: 1432 fuhren drei venezianische Handelsschiffe von Kreta Richtung Brügge. Durch einen Sturm wurden die Schiffe unter Kapitän Pietro Querini extrem weit vom Kurs abgebracht und zerstört. Die Überlebenden, unter ihnen der Kapitän, strandeten auf Røst, wo sie von einheimischen Fischern aufgenommen wurden. In seinen Erinnerungen beschreibt Querini mit Begeisterung ihre naturverbundene Lebensweise, ihre Gastfreundschaft und vor allem die Produktion von Stockfisch (also durch Trocknung haltbar gemachter Fisch, vor allem Kabeljau), dem norwegischen Exportschlager, den er nach seiner Rückkehr in Italien populär machte.

 

Doch zurück zu Røst: Alljährlich findet dort ein Festival rund um Querinis Geschichte statt, alle drei Jahre wird sogar eine Oper dazu aufgeführt. 2017 ist Andreassen auf Einladung nach Røst gereist, um sich mit dem Ort und seiner Historie auseinanderzusetzen sowie Material für eine Ausstellung zu sammeln. Er ist selbst ein Inselmensch, ist auch am Polarkreis zuhause und wohnt im Grunde gar nicht weit weg. Der aus Tromsø stammende Künstler, der viel von der Welt gesehen hat, lebt und arbeitet mittlerweile auf Fleinvær – als einer der ganz wenigen festen Bewohner*innen.

 

 

Ausstellung auf Røst, Fischfabrik Glae N556, 2018 und Are Andreassen (rechts) bei der Eröffnung auf Föhr, Museum Kunst der Westküste, 2023, Foto: Lukas Spörl

 

Mit dem Holzschnitt verwendet Andreassen ein im Sinne seiner Motive ganz zeitgemäßes Reproduktionsmedium: Es handelt sich um die älteste künstlerische Drucktechnik, die Anfang des 15. Jahrhunderts aufkam.

 

Die historischen Ereignisse als solche zeigen seine Drucke jedoch nicht. Keine sturmgepeitschten Schiffe, kein Moment des drohenden Untergangs, keine Rettung der Überlebenden. Was zu sehen ist, ist der Kabeljau, der Norwegen reich gemacht hat und dem Land – zusammen mit anderen Meerestieren – auch nach wie vor Spitzenprofite im Exportgeschäft beschert. Für die Trocknung der Fische kommen in kleineren Küstenorten immer noch die traditionellen Fischflocken zum Einsatz ebenso wie die „Ravedstanger“, die Holzstangen, die nach dem Rahsegel der Wikingerschiffe benannt sind.

 

 Are Andreassen, Rosthjell, 2018 © Courtesy the artist, VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Are Andreassen, Gadus Morhua und Are Andreassen, Rosthjell, beide 2018 © Courtesy the artist, VG Bild-Kunst, Bonn 2023

 

Schon vor mehr als tausend Jahren haben sich Menschen auf Røst und hunderten anderen weit vor der Küste Nordnorwegens gelegenen Inseln angesiedelt. Dort lebten sie quasi in Reichweite der reichen Fischgründe des atlantischen Kabeljaus. Ein konstant trockener Winterwind mit Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt machte es möglich, den Fisch zu trocknen und große Mengen davon über längere Zeit zu lagern. Stockfisch war die Nahrungsquelle, die den Wikingern erlaubte, um die Welt zu segeln. Der getrocknete Fisch wurde ein wichtiges Handelsprodukt der Hanse und bildete jahrhundertelang die Grundlage der norwegischen Wirtschaft und Kultur, bis in den 1970er-Jahren Erdöl und Erdgas zu den wichtigsten Exportgütern avancierten.

 

Es sind diese alten Handelsbeziehungen und  internationalen Verbindungen, die ausgehend von den Inseln weit vor der Küste unterhalten wurden, die Andreassen zu seinen Bildern inspiriert haben. Die vermeintlich isolierten Gemeinschaften waren keineswegs abgeschnitten, sie verbanden Menschen verschiedener Kulturen miteinander. Von ihnen aus wurden Geld und Lebensmittel sowie, ergänzt Andreassen, Geschichten und Mythen, Freud, Leid und Veränderungen um die Welt gebracht.

 

Und so weitet sich der Blick: etwa auf die markanten Silhouetten der kleinen Nachbarinseln, einst sehr fruchtbare Eilande, auf denen die Menschen von Røst jagten und die Eier der unzähligen Seevögel sammelten. Es gibt auch viel weniger Silbermöwen als früher, erklärt Andreassen. Und so taucht ausgerechnet dieser robuste Wasservogel als Schädel auf und bildet ein Pendant zur schnabelförmigen „Maske des Querini“, die vor einem signalgelben Hintergrund erscheint: potenzielle Gefahr.

 

Are Andreassen, Maskert Querini, 2018 © Courtesy the artist, VG Bild-Kunst, Bonn 2023

 

So jedenfalls war es, als zu Querinis Zeiten in den Heimathafen einlaufende Schiffe gelb beflaggt wurden: Vielleicht hatten sie die Pest an Bord, eingeschleppt von irgendwo her auf der Welt. Alles ist mit allem verbunden und wo der Mensch globalen Handel betreibt und in den Naturkreislauf eingreift, macht sich das bemerkbar. Es ist ein Motiv, das durch die Coronapandemie eine erschreckend neue Dimension erhalten hat.

 

Nicht immer haben Künstler*innen eine Antwort auf die Probleme, die sie vor Augen führen, sie müssen es auch nicht. Andreassen aber hat sie und er musste nicht lange danach suchen. Die Menschen an der Küste erzählen sich seit Menschengedenken davon und das nicht nur in Norwegen, viele Länder kennen die Geschichte von Utrøst, die dann nur etwas anders heißt: Die Rede geht von einer geheimnisvollen unsichtbaren Insel, die schiffbrüchigen Seeleuten erscheinen soll und sie vor dem sicheren Ertrinken bewahrt. Drei Kormorane, die Prinzen dieser Insel, sollen die Notleidenden dann an Land geleiten. Die Natur, spricht aus diesen Zeilen, nimmt und die Natur gibt.

 

Als ich mit dem Künstler über Utrøst spreche, fällt das seltsam altmodisch klingende Wort „Demut“. Ich denke, er meint etwas, das in der Soziologie aktuell unter dem Begriff der „Unverfügbarkeit“ diskutiert wird: Es geht darum, zu akzeptieren, dass wir nicht alles kontrollieren können, dass sich die Welt nicht in allem verfügbar machen lässt und dass wir das eigene Schicksal nicht vollständig in der Hand haben. Vielleicht ist das ein nicht mehr allzu gewohnter Gedanke, aber ein sehr guter.

 

Zugleich unterstreicht Andreassen das Thema Wirtschaft und die Rolle des Handels als Träger von Kultur und Kommunikation, indem er den Warencharakter seiner Drucke hervorhebt und sie gleich mit zur Marke macht: Wie bei einer Briefmarke oder bei einer Frachtkiste prangen an den Rändern der Holzschnitte kurze Schriftzüge. „Weste magro“, „Bremer“ oder „Italia grande“ sind Bezeichnungen, mit denen die Qualität des Kabeljaus bestimmt wird. Der Künstler hat sie mithilfe einer Schablone aufgebracht: Die orange-, lila- und ockerfarbenen Labels wurden ganz zum Schluss gesetzt, während die weiße Beschriftung teilweise vom Abdruck der schwarzen Platte überlagert wird. Auch in den Farbspuren, die teilweise über den schwarzen Plattenrand hinausragen, kommt das nicht ganz Perfekte, das Handwerkliche zum Ausdruck, das den Bildern einen bodenständigen und sehr persönlichen Charakter verleiht.

 

Für ihn ist das fruchtbare Aufeinandertreffen der Seeleute um Pietro Querini und der Inselbewohner*innen von Røst schließlich auch ein Sinnbild dafür, wie wir mit dem Fremden umgehen sollten: offen und neugierig.

 

Dr. Pia Littmann, Kuratorin der Ausstellung Dampfer, Deiche, Dramen. Druckgrafik aus der Sammlung und zeitgenössische Positionen