Naturphänomen oder -katastrophe?

Diese Berichte kennen wir alle nur zu gut: Zerstörte und zertrümmerte Häuser, alles liegt in Schutt und Asche. Nichts ist übriggeblieben, von dem, was wir uns so mühsam aufgebaut haben. Ein Vulkan wütet auf La Palma und spuckt Asche, ein Sturm trifft auf die arabische Halbinsel und im Sommer 2021 waren wir dann selbst betroffen mit der Flutkatastrophe in Deutschland. Sind wir also doch nicht unantastbar von diesen Unglücken. Aber wann wird der Wind, das Wasser, der Schnee oder der Schlamm, vom Naturelement zur Katastrophe? Wieso nehmen wir die Bilder in den Medien nicht als Darstellung der unfassbar faszinierenden und kraftvollen Naturspektakel wahr, die sie abbilden?

 

Das sind Aspekte, mit denen sich der Künstler, Thomas Wrede, schon lange vor der Flutkatastrophe diesen Jahres beschäftigte.

 

Thomas Wrede, Nach der Flut, 2012, aus der Serie "Real Landscapes", © VG Bild‐Kunst, Bonn 2021, Foto: MKdW, Lukas Spörl

 

Seine Inspiration sind Naturkatastrophenbilder, wie sie in den Medien verbreitet werden. Anlass zur Fotoarbeit „Nach der Flut“ (2012), welches bis 5. Dezember 2021 in der Ausstellung Made on Föhr. Fotografie aus dem Artist-in-Residence-Programm gezeigt wird, lieferten so beispielsweise die Aufnahmen des Tsunamis in Asien 2004. Das Werk „Schlammlawine“ dagegen – ebenfalls in der Ausstellung enthalten – wurde durch die sogenannte Mure in Brienz (CH) 2005 und deren zahlreiche Darstellung in den Medien motiviert. Dabei ist es die Frage „Was macht eine Naturkatastrophe zur Naturkatastrophe?“, die Thomas Wrede umtreibt. So kann eine Lawine, ein Sturm oder eine Flut auch als Naturphänomen betrachtet werden. Wie kommt es also, dass die Medienbilder immer negativ mit der „Katastrophe“ konnotiert sind? Wieso werden nicht die Faszination, Wertschätzung und das Erstaunen über die mächtige und zugleich beeindruckende Natur in uns hervorgerufen?

 

Für Thomas Wrede gibt es bereits eine Antwort auf diese Frage. Die menschliche Perspektive und das Ausmaß, in dem der Mensch vom Naturphänomen nachhaltig tangiert wird, sind es, die über die Konnotation bestimmen.

 

So sagt er „, wenn dort Menschen oder menschliches Hab und Gut zerstört wird, dann wird es zur Katastrophe. Aber diese Schlammlawinen, diese Muren, die gehen überall irgendwo ab; oder Vulkane, die explodieren und ganze Landstriche unter sich begraben. Dann ist es ein Naturphänomen, ein Naturereignis. Wenn da nicht unmittelbar Menschen betroffen sind, dann berührt uns das gar nicht so, sondern es ist irgendwie interessant, man ist fasziniert von der Gewalt, von der Kraft.“

 

Das ist es, was wir beim Gang durch die Galerie mit den Bildern von Thomas Wrede sehen. Die genauere Betrachtung der beiden Fotografien „Nach der Flut“ (2012) und „Schlammlawine“ (2020) demonstrieren die schmale Gratwanderung zwischen Naturphänomen und Naturkatastrophe. Und in Abgrenzung voneinander führen sie uns nur zu deutlich vor Augen, wie stark unser Blick in diesem Kontext getrübt ist. So erkennen wir in „Nach der Flut“ (2012) den starken Kontrast zwischen Vordergrund und Hintergrund – erkennen, wie die von der Katastrophe verursachte Zerstörung mit Vorrücken in den Hintergrund Raum frei gibt für die Idylle der Nordseelandschaft. Im Vordergrund also findet die Katastrophe statt, in dem Sinne, dass der Mensch betroffen ist. Häuser, Wohnräume, Leben wurden zerstört. Automatisch fragen wir uns, ob wohl Menschen hier ihr Leben lassen mussten. Wir überlegen, wie die Zukunft für die Bewohner dieser Häuser nun aussehen wird; wie sich diese individuellen Zukunftsaussichten innerhalb kürzester Zeit komplett auf den Kopf stellten. Wahrscheinlich macht sich ein Mitleidsgefühl in uns breit. Wir nehmen wahr, wie die Trauer in uns aufsteigt und wir vielleicht selbst etwas ängstlich in die Zukunft blicken, denn die Naturgewalt kennt natürlich, wie wir alle wissen, keine Grenzen. (Dieser Gedanke mag übrigens dadurch verstärkt werden, dass es sich hierbei um europäische Häuser in Modellform handelt. Thomas Wrede inszenierte bewusst ein Naturereignis, das in Japan stattgefunden hatte, im europäischen Kontext und verdeutlicht so, dass diese Dinge durchaus auch im europäischen Raum passieren können.) Das ist die Katastrophe im Bild, ganz nach der Definition „sobald der Mensch betroffen ist“, handelt es sich um eine solche. Im Hintergrund finden wir jedoch die besagte Idylle der Nordseelandschaft. Hier ist kein einziger Hinweis auf das soeben vonstattengegangene Naturspektakel. Im Gegenteil, die Sonne am Horizont lässt vermuten, dass es sich um einen stillen, friedlichen und wetterereignisarmen Tag handelt. Es ist also nicht nur der Titel, der den Fokus auf den Zeitraum nach dem Naturereignis legt, sondern auch die Komposition des Bildes, die die Atmosphäre von einer Ruhe nach dem Sturm hervorruft.

 

Ausstellungsansicht, Made on Föhr. Fotografie aus dem Artist-in-Residence-Programm- Nicole Ahland, Elina Brotherus, Thomas Wrede, © VG Bild‐Kunst, Bonn 2021, Foto: MKdW, Lukas Spörl

 

Die „Schlammlawine“ treibt dieses Vorgehen und diesen Kontrast zwischen Naturkatastrophe und Naturphänomen nun auf die Spitze. Denn die Idylle und „Stille“, die in „Crocodile Islands“ (2020) und „Früher Morgen bei den Korallenmoosinseln“ (2016) klar dominiert umhüllt auch die „Schlammlawine“ in ihrer Gänze. Die Komposition ähnelt „Nach der Flut“, indem die Naturkatastrophe im Vordergrund und das Naturphänomen zusammen mit der Idylle der Landschaft im Hintergrund verortet werden können. Allerdings verschwimmen die Grenzen hier deutlich mehr. Die gesamte Fotografie ist sehr symmetrisch und zentriert aufgebaut. So fließt das Wasser fast genau ins Zentrum des Bildes und wird umrahmt von Felsen, Tannen und vereinzelten Häusern, die gleichförmig auf der Fläche verteilt sind. Auch die Farbkomposition ist sehr ruhig und einheitlich. Wichtiger und eindrücklicher im Vergleich zu „Nach der Flut“ ist allerdings, wie wenige Häuser, wie wenig menschliches Leben tatsächlich abgebildet sind. Der Vordergrund ist hier also nicht geprägt von Zerstörung und Leid, sondern weist lediglich einen kleinen Teil dessen auf. Dementsprechend strömen unsere Gedanken bei der Betrachtung des Bildes nicht sofort in Richtung Mitleid, sondern verweilen etwas länger bei dem Naturphänomen selbst. So wird die Dramatik des Geschehens dadurch heruntergespielt, dass die Szene eher den Anschein erweckt, als ob alles so weitergehen würde wie bisher. Die Felsen und Tannen stören sich nicht sonderlich am Schlamm und werden auch nach diesem Naturereignis prächtig gedeihen und wachsen. Die wenigen vereinzelten Häuser, die sich in dieser Landschaft befinden, mögen zwar zerstört sein, aber trotzdem nicht in dem Maße, in dem wir es bei „Nach der Flut“ vorfinden. Hier könnte man sogar mutmaßen, ob es überhaupt zu Menschenverletzungen gekommen ist. Gleichermaßen unterstreicht der Titel der Fotografie die Schwerpunktsetzung auf das Naturphänomen der „Schlammlawine“. Folglich nimmt die Idylle der Landschaft einen sehr großen Teil ein und das, obwohl der Horizont sehr viel kleiner gehalten wurde (beziehungsweise sogar nur die Spiegelung des Himmels im Wasser und nicht den Himmel selbst darstellt).

 

Ausstellungsansicht, Made on Föhr. Fotografie aus dem Artist-in-Residence-Programm- Nicole Ahland, Elina Brotherus, Thomas Wrede, © VG Bild‐Kunst, Bonn 2021, Foto: MKdW, Lukas Spörl

 

Dass Thomas Wrede diese Fotografien als Illusionen, als Inszenierung kleiner Landschaftsausschnitte, versehen mit Modellbauteilen, realisiert, verdeutlicht seine intensive Auseinandersetzung mit elementaren Fragen. So steht hinter seiner Arbeit nicht nur die Frage, wann eine Naturkatastrophe zur Naturkatastrophe wird, sondern auch, was eine Landschaft überhaupt ausmacht und wie wir diese definieren. Es liegt also an uns als Betrachter*innen, sich mit all diesen Dingen auseinanderzusetzen. Fragen wir uns, woran wir selbst den Unterschied zwischen Naturphänomen und Naturkatastrophe festmachen. Fragen wir uns, was für uns eine Landschaft ist. 

 

Thomas Wrede, 1963 in Iserlohn geboren, beschäftigt sich als internationaler Fotograf und Künstler mit dem Verhältnis zwischen Realität und Fiktion. Reale Landschaftsausschnitte fotografierend, in die fiktive Elemente in Form von Modellen eingebaut werden, täuscht er den Betrachter in der Serie „Real Landscapes“, die seit 2004 stetig wächst. Doch nur auf den ersten Blick, weshalb sich der zweite umso mehr lohnt. Seit 2015 lehrt er als Professor für Fotografie an der Hochschule der Bildenden Künste in Essen. Als Artist-in-Residence verbrachte er schon mehrmals Zeit auf der Insel Föhr, um einige seiner Projekte zu verwirklichen. So auch zuletzt im Juni 2020, als die „Crocodile Islands“, sowie „Schlammlawine“, entstanden. Diese sind bis zum 5. Dezember 2021 in der ersten Gruppenausstellung ihrer Art, Made on Föhr. Fotografie aus dem Artist-in-Residence-Programm im MKdW zu sehen. Wer es allerdings nicht mehr bis zum Ende der Ausstellung im Dezember nach Föhr schafft, hat auch die Möglichkeit die Werke im 3D-Rundgang und der Sammlung Online des MKdW zu bestaunen.

 

Auf Grundlage eines Interviews mit Thomas Wrede am 27. September 2021

 

Julia Flattich

Praktikantin im Museum Kunst der Westküste im September 2021

Studentin der Universität Konstanz